Abhasendra fragte dann: „Oh Bhagavan, welche Art von Dinge müssen die Leute wissen, die die Praxis des tiefgründigen Durchtrennens der Maras praktizieren? Möge der Lehrer das erklären!“
Er erwiderte: „Oh Abhasendra, die tiefgründige Weisheit des Erkennens der Merkmalslosigkeit ist das sogenannte Objekt des Abschneidens der Maras. Das ist, was man in Hinblick darauf wissen muss: zuallererst ist es allein das ursächliche Nicht-Gewahrsein von einem, dass das eigene Gesicht des Dharmakaya verschleiert. Das Bewusstsein des Greifens nach einem Ich kommt auf und dann erscheint das, was nicht körperlich ist, als ein Körper. Das sehr feste, dichte Bewusstsein eines solch besitzergreifenden Festhaltens fasst diesen Körper als sich selbst auf und es behütet hingebungsvoll diesen Körper und klammert sich an alle Arten von Hoffnungen, Befürchtungen, Freuden und Leiden. Täuschung im Daseinszyklus ist solchermaßen, dass man sogar während des Träumens nach diesem Körper greift und zum Wohle seiner Erhaltung, Freude und Schönheit ist man fest daran gebunden und von vielen verschiedenen Geisteszuständen der Anhaftung und des Hasses gefangen. Als ein Ergebnis davon ist man im endlosen Daseinskreislauf getäuscht und Maras, Vighnas, Pisacas und Grahas tauchen auf.
Wenn man glaubt, dass sie die Mittel des körperlichen Überlebens beschädigen, dann entsteht Furcht vor den eigenen Feinden, aufgrund des Anscheins, dass sie einem den Besitz und die Freuden rauben, entsteht ihnen gegenüber Hass. Scheint es, dass der Körper krank wird und sich unbehaglich fühlt, entsteht Furcht in Hinblick auf die Dämonen. Mit dem Verlangen nach körperlichem Wohlbefinden, tauchen hoffungsfrohe Gedanken allen guten Dingen gegenüber auf und fürchtet man, dass etwas dem Körper schaden könnte, entsteht Furcht vor allen schlechten Dingen. Der Geist wird vom Körper erschüttert, wenn Krankheit im Körper auftritt, wenn die Erscheinungen von Hunger und Durst im Körper und das Auftauchen von Hitze und Kälte im Körper gegeben ist. Wegen des Auftauchens von erfreulichen und leidvollen Erscheinungen hinsichtlich des Körpers wird der Geist von unerfreulichen Objekten angezogen und ist von Leiden geplagt. In allen Leben hindurch, abgesehen von seltenen Momenten der Unbewusstheit, begleitet der Geist dieses befleckten, liebgewonnenen Körper als ob es sein Schatten wäre, sodass der Körper die Grundlage für verschiedene Arten des Leidens ist.
Alle Hoffnungen, die aus irgendeinem Objekt entstehen, werden Hoffnungen an gute, erhabene maras genannt und alle Befürchtungen durch irgendein Objekt der Furcht als Grundlage, sind böse Maras. Deshalb ist die Grundlage für den Daseinskreislauf und der elenden Daseinszustände das obsessive Greifen nach dem eigenen Körper. Als eine Technik des Abschneidens eines solch obsessiven Greifens betrachtet man den eigenen Körper wie eine Leiche. Man blickt auf das Bewusstsein als den Träger dieses Körpers, auf das obsessive Greifen als das Band, das übertragen wird, auf die schroffen Leichenstätten und auf die Götter und Dämonen als Vögel und Raubtiere. Durch diese fünf Arten praktiziert man Großzügigkeit.
Das muss man zu allen Zeiten und in jeder Situation wissen: man lebt das eigene Leben bekleidet mit diesem Körper als schöne, warme Bekleidung und fördert ihn mit geschmackvollem, nahrhaftem Essen. Gegen Ende hin nimmt man Härten auf sich, denkt nicht Müdigkeit und schultert die große Last des Leidens. Während man die Ursachen für ewige Freude und ihre Folgen ignoriert, strebt man eifrig und ohne Befriedigung. Am Ende verwelkt das Fleisch zwischen Haut und Knochen, die Haut wird von Runzeln bedeckt und die Beine und Arme werden wie Stöcke, die Hautfarbe lässt nach und man nimmt die Farbe eines verfaulten, schimmligen Leichnams an, die Wangen und die Wirbelsäule werden schief wie die Stufen einer Treppe, das schwarze Haar wird weiß, die Zähne fallen aus und der Mund wölbt sich nach innen, die Augen werden schwach und man kann den eigenen Weg nicht sehen, es ist schwer aufzustehen, als ob man einen Leichnam hochziehen würde, es fällt schwer, ruhig zu sitzen, als ob man eine Last tragen würde, in den Gedärmen rumpelt es aufgrund von Verdauungsbeschwerden und man muss häufig urinieren, sodass man den Durst nicht löschen kann. Gestört von einem wirbelsturmartigen Getöse von diesen ganzen Schmerzen und Plagen wird eine Zeit kommen, wo nicht einmal ein Iota Freude mehr übrig ist. Dann kann dieser Körper nicht einmal mehr durch Fürsorge erhalten werden und er kann nicht mehr beschützt werden. Überdenke wiederholt die Nutzlosigkeit des Strebens zum Wohle dieses Körpers.
Im Allgemeinen sind Pisacas gierig verschlingende Wesen, da sie die Früchte der Allwissenheit verzehren und Vadhakas sind Mörder, da sie das Vorhandensein des Anscheins von Geburt und Tod im Daseinskreislauf präsentieren. Sie schneiden die Lebenskraft von einem ab, da sie die Arterie der Befreiung durchtrennen und sie rauben einem den Atem, da sie den Atem des Glücks stehlen. Die Vielzahl der Pisacas der weltlichen Existenz wird so genannt, weil sie die zyklische Existenz, die kein Sein hat, ins Dasein treten lassen. Die zehn Grahas werden deshalb so genannt, da sie einen Leben um Leben plagen. Die Harinis werden so genannt, weil sie die Ansammlungen von Verdienst und Weisheit stehlen. Die Nagas, Grahas und Ksamapatis sind die Täuschungen, die von den Ursachen und Bedingungen der Unwissenheit erzeugt werden. Männliche Grahas, Parthivas und Vigrahas sind Geistererscheinungen des Hasses anderen Objekten gegenüber. Weibliche Grahas, Parthivas und Vigrahas sind Geistererscheinungen der Anhaftung an Phänomene der Sinnesfreuden. Die 80.000 Arten der Vighnas werden deshalb so genannt, weil sie den Pfad der Befreiung behindern. Die Pisacas des Dorfes und die Gyuks des Dorfes werden so genannt, weil sie sich im Dorf der fünf Aggregate aufhalten. Seraks werden so genannt, weil sie keine Genügsamkeit oder Zufriedenheit haben. Damsis werden so genannt, weil sie bewirken, dass man die Samayas übertritt. Alle Grahas, Vighnas, Vinayakas und Bhutas sind in diesem Körper hier vorhanden und sie existieren nicht irgendwo anders. Durch das Überprüfen dieses Umstandes durchtrenne das obsessive Greifen und um einem solchen Greifen entgegenzuwirken, erkenne die Wichtigkeit, den eigenen Körper wegzugeben.
Hinsichtlich des Körpers betrachte ihn innerlich als einen befleckten, liebgewonnenen illusorischen Körper, dazwischen als einen illusorischen Körper der trügerischen Erscheinungen der Sinnesobjekte und äußerlich ist er ein illusorischer Körper der berührbaren Erscheinungen der Elemente. Die Wesensnatur von all dem ist Leerheit. Das bewusste Gewahrsein, das nach dem greift, was leer ist, als ob es real wäre, ist der Geist, daher wird der Geist in die absolute Natur geschickt.[1] Die Wirklichkeit [dieses Körpers] wird in einen Leichnam verwandelt und dann wird das Selbst, der Handelnde, der das macht, als etwa wie ein Illusionist angesehen.
Der Körper wird in begehrenswerte Opfergaben wie bei einem illusorischen Festmahl verwandelt, während die Empfänger dieser Opfergabe als eine illusorische, projizierte Menge angesehen werden. Was die weißen Opfergaben angeht, so wird der Leichnam in einen Berg der drei weißen Opfergaben und der drei süßen Opferungen verwandelt und dann dargebracht. Betreffend dem bunten Opfermahl wird [der Leichnam] als eine prachtvolle Anordnung der verschiedenen begehrenswerten Dinge angesehen und dann geopfert. Was die rote Opferung angeht, so wird [der Leichnam] als Fleisch, Blut, Knochen, Mark und Fett gesehen und dann geopfert. Was das schwarze Opfer angeht, so wird [der Leichnam] als eine schwarze Flüssigkeit gesehen, die Krankheit, Grahas, Laster und Verschleierungen reinigt. Diese Opfergaben werden vorbereitet und zu den vier Gelegenheiten dargebracht.
Zu allen Zeiten und in allen Situaltionen verbanne schonungslos alle Ängste und Sorgen aus deinem Geist. Bestärke dich darin, auf alle unerwünschten Krankheiten und elenden Zustände zu hoffen und erfreue dich an ihnen. Es ist entscheidend, sich ernsthaft im Verhalten des Annehmens des Leidens von anderen auf dich und des Aussendens von Glück an sie zu üben. Im Allgemeinen geh an alle Orte, die von Dämonen bewohnt werden und bemühe dich dort in der entscheidenden Aufgabe des kraftvollen Aufrührens der Ideenbildung. Während äußerlich erscheinende Götter und Dämonen niemals existiert haben, erfreue dich, wenn Götter und Dämonen, die durch Ideenbildung entstanden sind oder wenn ihre Geistererscheinungen auftauchen, daran, wie wenn du ein Geier wärst, der auf einen zerstückelten Leichnam herabkommt. Wenn sich innerlich manifestierende Schmerzen und Plagen in deinem Körper auftauchen, erfreue dich daran, als ob du ein Bettler wärst, der Nahrung und Besitz erlangt hat und stell dir vor und sage: ‚Mögen viele solcher Dinge sich beständig ereignen!‘ Ferner wenn sich geheim manifestierende Freuden und vergnügliche Erscheinungen in deinem Geist auftauchen, dann durchtrenne sofort das Anhaften und Verlangen und sobald irgendeine Art des Leidens und des Unglück eintritt, schneide Hoffnung und Furcht ab und kultiviere ein Gefühl von guter Freude. Der wichtigste Punkt ist, mit einem Gefühl blanken Verzichts zu wünschen: ‚Möge jemand diesen Körper wegnehmen!‘ Wisse, dass dies die drei Arten der Praxis für alle äußeren, inneren und geheimen Vorkommnisse ist.
Bedenke, ‚Wenn sich dieser Körper in einen Leichnam verwandelt, ob er verbrannt wird, in einen Fluss geworfen wird oder in der Erde vergraben wird, alle meine Bemühungen und alle Schwierigkeiten, denen ich mich zu seinem Zweck unterzogen habe, werden vergebens sein. Was für eine große Verschwendung! Es ist das Beste, diesen Körper fortzugeben, welcher der meistgepriesendste in dieser Welt ist. Warum nur kann ich mich nicht von dieser Grundlage des Daseinskreislaufs und der elenden Daseinszustände nicht losmachen und zur Zitadelle der großen Befreiung gelangen!‘ Auf diese Weise führe die tiefgründige Praxis des Abschneidens der Maras aus. Wenn du diesen entscheidenden Punkt nicht ordentlich verstehst, dann wird die Praxis, die Durchtrennen genannt wird, nichts weiter als eine mündliche Rezitation und ein Lärm machen mit einem Damaru und einer Glocke sein. Zunächst einmal bestimme und erkenne die Natur der tiefgründigen Leerheit, die die Grundlage des Durchtrennens ist. Das ist etwas, das du wissen musst. Der Gipfel der Praxis ist, dass man zu vollkommenen Natur von allem in Samsara und Nirvana in der absoluten Natur des angeborenen Raumes kommt. Da ist das letztendliche, höchste Ziel. Das Tantra der Tiefgründigen Disziplin des Durchtrennens der Maras ist nichts anderes als das.“
[1] Dies geschieht dadurch, dass der Geist vom Körper abgetrennt wird und diesen in Form einer Dakini uranfänglicher Weisheit verlässt.
Aus dem Vajra-Herz-Tantra (Nelug Rangjung) von Dudjom Lingpa; übersetzt vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2014). Möge es von Nutzen sein!
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