Verfasst von: Lama Christian | 15. Oktober 2017

Geistiges Ruhen und nacktes Gewahrsein

Wie Dudjom Rinpoche in seinen essentiellen und leicht durchführbaren Anweisungen für die Klausur in den Bergen anmerkt, ist Hingabe der wesentliche Faktor, um rasch alle Pfade und Stufen zu durchqueren. Hier sein Rat zum Realisieren des nackten Gewahrseins.

Herzensrat zum natürlichen Ruhen

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„Mit Inbrunst von ganzem Herzen zu beten, ohne auch nur für einen Moment aufzuhören, den Guru als den wahren Buddha anzusehen, das ist das Allheilmittel, das allen anderen Wegen des Beseitigens von Hindernissen und des Vorankommens überlegen ist. Stufen und Pfade werden mit großem Schwung durchquert.
Hinsichtlich der Fehler in der Meditation, entwickle wachsames Gewahrsein, wenn deine Meditation sinkt und dumpf wird, entspanne dich voll und ganz, wenn sie sich zerstreut und wild wird. Dennoch sollte das kein absichtliches und angestrengtes Zurückholen sein, das vom gewöhnlich meditierenden Geist erzeugt und gehütet wird. Sei einfach achtsam dabei und vergiss die Besinnung auf deine wahre Natur nicht. Bewahre dies unter allen Umständen – beim Essen, Schlafen, Gehen, Sitzen, während oder nach den Meditationssitzungen. Welche Gedanken auch auftauchen, ob glücklich, qualvoll oder verunreinigt, verweile ohne die Spur einer Hoffnung oder eines Zweifels, ohne zurückzuweisen oder anzunehmen. Und versuche in keiner Weise sie mit Gegenmitteln zu zerstören. Welche Gefühle des Glücks oder Leidens es auch geben mag, belasse sie wie sie in ihrer wahren Natur sind – nackt, frisch, klar, weit und lichthaft. Weil es für alles nichts anderes als einen einzigen Punkt gibt, verwirre dich nicht mit allen Arten des Grübelns. Es besteht keine Notwendigkeit, auf die Leerheit als ein Gegenmittel zu meditieren, verschieden von den unerwünschten Gedanken und Verschleierungen. Wenn du die Natur dieser unerwünschten Gedanken mit Gewahrsein erkennst, dann werden sie im selben Moment befreit sein, genauso wie eine Schlange sich selbst entknotet.
Fast ein jeder weiß, wie man diese letztendliche, verborgene Bedeutung der strahlenden, diamantenen Essenz in Worten ausdrückt, aber nicht wie man sie in die Praxis umsetzt. Und dadurch sind diese zu Litaneien von Papageien geworden. Wir, die dies praktizieren, sind so großartig vom Glück begünstigt!
Nun gibt es da noch mehr zu verstehen, das wir sorgfältig berücksichtigen müssen. Die zwei Todfeinde, die uns seit anfangsloser Zeit in der zyklischen Existenz bis jetzt gebunden haben sind der Greifende und das Ergriffene. Da wir nun durch die Güte des Gurus in die in uns befindliche Dharmakaya-Natur eingeführt worden sind, sind diese beiden nun wie Federn verbrannt, ohne Spuren oder Überreste zurückzulassen. Ist das nicht erfreulich?
Hat man die tiefgründigen Anweisungen auf solch einem geschwinden Pfad empfangen und setzt sie nicht in die Praxis um, dann werden sie wie ein wunscherfüllendes Juwel sein, das im Mund eines Leichnams liegt – welch kläglicher Verlust! Lass dein Herz nicht verfaulen, sondern mach dich an die Praxis.

Anfänger

Anfänger werden entdecken, dass der Geist, der von dunklen Gedanken vollständig heimgesucht ist, sich in Zerstreuung verliert. Sogar noch winzigere Gedanken werden unbemerkt wuchern, bis eine lichthafte Achtsamkeit zurückkommt und du traurig denkst: „Ich bin abgeschweift.“ In diesem Moment unternimm nichts, um den Verlauf der Gedanken zu unterbrechen oder Bedauern über das Abschweifen zu empfinden usw. Verweile einfach in dieser klaren Achtsamkeit und bleibe beim Erfahren des natürlichen Zustandes. Das ist an sich genug. „Weise Gedanken nicht zurück, betrachte sie als Dharmakaya.“ Dies besagt ein bekannter Ausspruch.
Bis deine Erfahrung einer weiteren Schau vollendeter geworden ist, einfach zu denken: „das ist Dharmakaya“ und in ausdrucksloser Ruhe zu verbleiben, beinhaltet das Risiko, von einer gestaltlosen Gleichgültigkeit bar jeder Merkmale gefangen genommen zu werden. Egal welche Gedanken auch auftauchen, starre sie anfangs einfach an, ohne sie zu analysieren oder darüber nachzudenken und ruhe im Erkennenden der Gedanken, ohne dich über sie zu sorgen oder ihnen eine Wichtigkeit zu verleihen, gleich einem alten Mann, der Kindern beim Spielen zusieht.
Indem du so ruhst, wirst du in einer Art des Stillstandes des natürlichen Zustandes frei von Gedanken niederlassen. Wenn dies geschieht, dann wird eine plötzliche, zerstörende, unmittelbare Weisheit, die im gewöhnlichen Geist auftauchen, die nackt, frisch, lebendig und erhaben ist.

Mögliche Fallgruben

Auf dem Pfad kann es eine gewisse Vermischung von Erfahrungen der Glückseligkeit, Klarheit und Gedankenfreiheit geben, aber wenn du darin verweilst ohne auch nur eine Haaresbreite an Zufriedenheit, trügerischer Anhaftung, Hoffnung oder Zweifel zu haben, dann wird dich das davor bewahren, in die Irre zu gehen.
Es ist sehr wichtig, dass du Zerstreuung immer vermeidest und mit einsgerichteter, wachsamer Achtsamkeit praktizierst. Wenn du in eine sporadische Praxis und in theoretisches Wissen abweichst, dann wirst du von einer undeutlichen Ruhe getäuscht werden. Das wird dir überhaupt nichts nützen, wenn du dir über deine Erfahrungen nicht voll und ganz im Klaren bist, dann wirst du bloß sprachlich gut argumentieren, aber das wird überhaupt nicht nützlich sein. Wie in den Dzogchen-Tantras gesagt wird: „Theorie ist wie ein Flicken, der abgehen wird,“ und „Erfahrungen sind wie Nebel, die sich auflösen werden.“
Auf diese Weise werden viele großartige Meditierende von guten oder schlechten geringeren Umständen in die Irre geleitet und verlieren sich darin. Selbst wenn Meditation deinen Geist durchdrungen hat, musst du sie weiterhin pflegen, andernfalls werden die tiefgründigen Anweisungen in den Buchseiten bleiben und dein Geist, dein Dharma und deine Praxis werden unempfindlich, sodass die Geburt der wahren Meditation nicht eintreten wird. Ihr alte Meditierende, noch immer Novizen in der Praxis, aufgepasst! Da besteht die Gefahr, dass ihr mit einem salzverkrusteten Kopf sterben werdet!

Hingabe als förderlicher Faktor

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Nachdem du über lange Zeit beständig praktiziert hast, wird eine Zeit eintreten, wo durch glühende Hingabe oder ein paar andere Umstände sich Erfahrungen in Erkenntnis verwandeln und Gewahrsein wird nackt und strahlend angetroffen. Es ist als ob ein Stoff von deinem Kopf genommen wird. Was für eine Erleichterung! Es ist das überragende Erblicken von dem, was zu vor nicht gesehen wurde. Von da an werden Gedanken als Meditation entstehen. Die Ruhe und das Bewegen werden gleichzeitig befreit sein.
Zuerst ist die Befreiung von Gedanken durch ihr Erkennen wie das Zusammentreffen mit jemandem den du schon kennst. In der Mitte ist die Selbstbefreiung von Gedanken wie das Entwinden einer Schlange aus ihrem Knoten. Und am Ende ist die Befreiung der Gedanken, die weder die Ursache von Nutzen noch Leid sind, gleich einem Dieb in einem leeren Haus. Diese drei werden stufenweise eintreten. Eine starke und völlige Überzeugung, dass alle Phänomene der Ausdruck deines eigenen Gewahrseins sind, wird von innen heraus geboren werden. Wogen aus Leerheit und Mitgefühl werden anbranden. Vorlieben zwischen Samsara und Nirvana werden aufhören. Man wird erkennen, dass Buddhas und Wesen nicht gut oder schlecht sind. Was man auch tut, Tag und Nacht in einem weitläufigen und vollkommenen Fortdauern, so wird man sich doch niemals aus der völligen Befriedigung der absoluten Natur entfernen. Wie in den Dzogchen-Tantras gesagt wird: „Erkennen ist unwandelbar wie der Himmel.“
Obwohl ein Yogi wie dieser „vereint im Natürlichen“ ist, hat er das Auftreten eines gewöhnlichen Menschen, sein Geist weilt in der mühelosen Schau des Dharmakaya und ohne zu tun durchquert er alle Stufen und Pfade. Schließlich ist sein Verstand erschöpft, die Phänomene sind aufgezehrt, so wie Raum in einer zerbrochenen Vase löst sich sein Körper in winzigste Teilchen auf und sein Geist löst sich ins Absolute auf. Das wird das Verweilen im Raum des ursprünglichen Grundes genannt, dem inneren, strahlenden jugendlichen Vasenkörper. So wird es sein.
Das ist die endgültige Sicht, Meditation und Handlung. Sie wird die Verwirklichung der Frucht, die nicht erlangt werden kann, genannt. Die Stufen der Erfahrung und Erkenntnis mögen entweder stufenweise erscheinen oder ohne besondere Reihenfolge sein oder alle gleichzeitig, entsprechend der Fähigkeiten der unterschiedlichen Individuen. Aber zur Zeit der Frucht gibt es keine Unterschiede.

Von Dudjom Rinpoche Jigdral Yeshe Dorje, genannt „Die essentiellen mündlichen Anweisungen für die Praxis der Klausur in den Bergen“ (tib., ri chos bslab bya nyams len dmar khrid go bder brjod pa grub pa’i bcud len), Band 13 (pa), Seite 443 – 468. Übersetzt vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2017).


Antworten

  1. Vielen lieben Dank für das Mitteilen dieses Textes dir Rangdrol Dorje. Erik

    • Lieber Erik, vielen Dank für dein Feedback. Viel Freude beim Lesen!
      LG Enrico


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