Verfasst von: Lama Christian | 10. August 2011

Schamanismus, Tantra & Magie

Die verschiedenen Formen der schamanischen Magie (= Handlungsbefähigung durch Lebens- & Geisteskraft) sollen die Seelenanteile oder Wesensaspekte wieder zurück in den Menschen bzw. in Harmonie bringen. Wesensaspekte sind verschiedene Aspekte des Gewahrseins bzw. der Bewusstheit, aber auch der Lebenskraft, Vitalität, des Geschicks sowie der fünf Elemente. Durch Schocks, traumatische Erlebnisse wie auch durch Missachtung der Umwelt und der individuellen Lebensführung entsteht ein Verlust an Wesenskraft (= Gewahrseinsenergie). Dieser Mangel an Gewahrsein mindert die bewusste Erlebnisfreude. Damit verbunden sind auch mangelnde Perspektive und Orientierung im Leben. Der Ngakpa Lama hat nun die Aufgabe, durch verschiedene Methoden die verlorenen Wesensanteile zurückzurufen, freizukaufen, zu befreien oder von fremden Bewusstseinsidentifikationen zu reinigen. Letzteres fällt in die Kategorie des Exorzismus.

Befrieden von Störungen 

In der Magie kennt man weiße, gelbe, rote und schwarze Praktiken. Die weiße Magie befriedet Wesenheiten und reinigt von negativen, krankmachenden Einflüssen. Gebet mit Friedens- und Segenswünschen fallen in die befriedende Kategorie, wie Heilungsrituale und Rituale der Rückholung der Vitalkraft. Schamanen praktizieren hier Shantikakarma (Befriedungstaten). Z.B. die Befriedung der Planetenkräfte als Ritual des Graha Sarne wäre hier zu nennen. Speziell Gaura Parvati – die weiße Urmutter – wird von den nepalesischen Schamanen dabei verehrt. In der tibetischen Tradition sind dafür Langlebensrituale z.B. Pujas an die Weiße Tara, an Tashi Tseringma, an Ushnishavijaya oder an Namgyalma bekannt. In all diesen Ritualen wird vorwiegend um Verständnis und Mitgefühl gebetet.

Rituale für Wachstum und Vermehrung

Durch Anrufungen an Mutter Natur und Verehrung der Erd- & Wasserwesen (nep., Naga; tib., klu) werden die Kräfte der Fruchtbarkeit gestärkt und Wachstum wird gefördert. Diese Praktiken fallen in die Kategorie der gelben Magie, die auch vermehrende Aktivität genannt wird. Die Verehrung der Naturwesen ist in naturverbundenen Kulturen von großer Bedeutung, weil dabei mit den Elementarkräften gearbeitet wird. Diese elementaren Energien sind die Grundlage für Wachstum, Wohlstand, Verdienst etc. In chtonischen Kulturen wie dem vorbuddhistischen Bön in Tibet, wurde der Verehrung der Erdmutter eine große Bedeutung beigemessen. Im buddhistischen Tantrayana sind Pujas an Dzambhala beispielhaft für diese vermehrende Aktivität.

Anziehende Praktiken

Die rote Magie ist als landläufig als Liebeszauber (nep., Mohani = Verzauberung) bekannt. Neben banaler Erotik und beziehungsfördernden Beschwörungen geht es vielmehr darum, attraktiv zu machen, einzuladen und vor allem störende Wesen anzuziehen und zu binden. Der Akt der Unterwerfung spielt hier eine große Rolle. Als „Liebeszauber“ dient diese Aktivität dem Entwickeln von Hingabe an die Schöpfung und der Entfaltung der Liebe. In der tibetischen Tradition wird Kurukulle dafür angerufen. Mittels der roten Kraft werden Amuletts angefertigt, Divinationen ausgeführt, Libido- und Potenzstörungen geheilt etc.

Auflösende & befreiende Rituale

Schwarze Magie oder Rudrakarma (verrücktmachende Aktivitäten) sollen festgefahrene Strukturen zerstören. Diese Handlungskategorie dient dazu, die Anhaftungen durch Egoismus entstanden, zu lösen. In der tibetischen Tradtion werden dafür zornvolle Manifestationen von Wesenheiten, z.B. Simhamukha, Vajrakilaya, Mahakala etc., verwendet. Die Schamanen rufen dafür Schützerwesen wie Bhairava in seinen verschiedenen Gestalten oder Mahakali, die große Schwarze, an. Praktiken mit diesen Wesenheiten sollen auch beim Zurücksenden von Flüchen und Verwünschungen, zur Abwehr von negativen Energien o.ä. helfen. Rituale für den Umgang mit Totengeister (nep., Massan) und ruhelosen Seelen (nep., Bhuta) fallen ebenso in diese Handlungsklasse.

Wesen, Übergänge und Seelenreise

Bei den magischen Praktiken wurden leider oft Absicht und Handlung miteinander vertauscht. Die Grundlage in der asiatischen Tradition – Schamanen (Jhankri), Bön & Buddhadharma – bildet das Streben zum Wohle aller Lebewesen. Während Schamanen ihre Fähigkeiten in Bezug auf die Gestaltung der Schöpfung und der Balance der Wesenskräfte einsetzen, nutzen Dzogchen-Bönpos und Yogis diese magischen Praktiken als Grundlage für die Befreiung aus dem Daseinskreislauf.
Der Umgang mit Wesenheiten z.B. im tibetischen Chöd-Ritual ist eine Integration schamanischer Praxisanteile in den Kontext des neuen Bön wie auch des tibetischen Buddhismus. Diese Nutzung der schamanischen Praktiken im Rahmen eines spirituellen Weges führt zu einer raschen Transformation des Wesens. Wenn in einer archaischen Sicht von Wesen gesprochen wird, dann findet man in spirituellen Traditionen diese als Wesensaspekte eines Menschen wieder. Diese Wesensaspekte wollen durch verschiedene Übergangssituationen und Zwischenzustände erkannt und geführt werden.
Das fundamentale schamanische Einweihungserlebnis – die Knochenschau – beschreibt die Auflösung der im Körper gefangenen Geistaspekte. Dies wird z.B. im Chöd-Ritual durch die Opferung des eigenen Körpers visionär vorweggenommen. Diesen Aspekt findet man auch im Christentum – „dies ist mein Fleisch; nehmet und esset davon“. Erst durch das Ablösen der Ich-haften Fixierung von der Erscheinungswelt ermöglicht echtes Wachstum. Dieses Wachstum ist dann die Reise von der groben, fragmenthaften Wahrnehmung zur psychisch-energetischen Ganzheit des Wesens.


Antworten

  1. Ein sehr interessanter Text, danke dafür.
    In dem Abschnitt Wesen, Übergänge und Seelenreise steht:
    Bei den magischen Praktiken wurden leider oft Absicht und Handlung miteinander vertauscht.
    Meine Fragen und Erfahrungen:
    Wo? Von wem?
    Ist den nicht stets, bei welchen Praktiken auch immer die Absicht jener klare führende Faden, welcher es erst ermöglicht Seelenreisen zu durchlaufen, Gespräche oder Infos mit Wesen zu führen, usw. ?
    Meine Erfahrung ist, dass die Handlungen welche auch immer da entstehen, stets getragen werden durch die Absicht und Handlungen sehr spontan, intuitiv und unberechenbar ja manchmal sogar scheinbar verrückt erscheinen. Fähigkeiten welche man in sich trägt, ballen sich zu einer fast explosiven Kraft in sich selbst auf und fordern erst auf, in die Handlung zu gehen. Solange noch Angst herrscht erscheint es mir unmöglich zu sein in diese Handlungen zu gehen. Und meine Lebenserfahrungen in diesen Erfahrungsgebieten sind jene, dass es irgendeine mir noch unbewusst Kraft gibt welche mich selbst immer wieder und immer stärker und öfter selbst zu der Absicht hinsteuert oder auffordert und zwar immer zum Wohle aller Lebewesen.
    Den Unterschied hier den du schreibst, verstehe ich auch nicht : Während Schamanen ihre Fähigkeiten in Bezug auf die Gestaltung der Schöpfung und der Balance der Wesenskräfte einsetzen, nutzen Dzogchen-Bönpos und Yogis diese magischen Praktiken als Grundlage für die Befreiung aus dem Daseinskreislauf.
    Bisher war ich der Ansicht, dass die Absicht all dieser Praktizierenden letztendlich ein und dem selben Ziel dient, nämlich der Befreiung aus dem Daseinskreislauf. Bedingt das eine nicht erst das andere und gleichzeitig Ist es dasselbe ? Im Sinne von: , in bewusster Absicht, mit den Fähigkeiten welche man hat, zu jener Handlung welche jeden genau dort abholt wo er gerade steht und ihn unterstütz zu seiner eigenen persönlichen Befreiung aus allen Verstrickungen. Step by Step. Aber vielleicht habe ich da auch ein Denk-und oder Erfahrungsdefizit, dass kann sein. Gibt es da Texte wo ich nachlesen kann wie den dieser Unterschied gemeint ist?, Bitte und danke.
    Liebe Grüße, Miljenka

  2. Gfoit ma!


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