Verfasst von: Enrico Kosmus | 3. April 2021

Meditativer Gleichmut

Aus dem Vajra-Herz-Tantra; von Dudjom Lingpa

Oh Kind aus guter Familie, bis du den Zustand der großen, den Intellekt übersteigenden Erschöpfung der Phänomene erlangt hast, überprüfe die Art und Weise wie Karma reift, ohne das es jemals einfach verschwindet und praktiziere fehlerfrei das Annehmen von Heilsamen und das Aufgeben von Laster. Erkenne die ungeheure Wichtigkeit davon und behüte es wie dein eigenes Leben. Insbesondere musst du die Wichtigkeit des Aufgebens des kleinsten Lasters und der geringsten Untat im Auge behalten. Wenn du das nicht machst und du hinsichtlich unheilsamen Verhalten verwirrt bist, dann wird die Macht der Übeltaten anwachsen bis vielleicht aufgrund der subtilen Verbindung zwischen Taten und ihren Ergebnissen verschiedene Verunreinigungen der gewohnheitsmäßigen Neigungen sich verbinden und gewaltige Konsequenzen auftreten werden und sie werden dich unerbittlich forttragen. Daher ist das Wissen um die Bedeutung von Handlungen und ihren Folgen wie die Augen, die dich befähigen, den Pfad zu sehen.

Durch Erwägungen über die Natur des Leidens im Daseinskreislaufs erkenne, dass der Daseinskreislauf wie eine Feuergrube, ein Schlangennest und wie ein Land der Rakshasas ist, ohne die geringste Gelegenheit auf Glück und widme dich ganz dem Streben nach Befreiung. Behalte diese Unerlässlichkeit des Erzeugens im Geist, bevor du ein Dharma-Praxis ausführst. Jene, die ihren Geist nicht auf diese Weise üben, auch wenn sie versuchen, die tiefgründigen praktischen Anweisungen anzuwenden, werden aufgeben und versagen, die Praxis bis zu ihrem Höhepunkt auszuführen, sobald Schwierigkeiten und kleine Dinge wie Hunger und Durst auftauchen. Nachdem du dich also in den Vier Gedanken, die den Geist wenden, geschult hast, ist es lebenswichtig, dass du diese ohne sie zu vergessen, jederzeit und in allen Lebenslagen beständig im Gedächtnis behältst. Das zu machen, ist das unübertroffene Kronjuwel aller Dharma-Praktizierenden.

Meditativer Gleichmut und postmeditative Phase

Was nun die Hauptpraxis angeht, so werden wahres Wissen und Erkenntnis des einen Geschmacks von allem in Samsara und Nirvana im Ozean des ursprünglichen Grundes, die Sicht der riesigen Weite des Raumes genannt und das umfasst die Manifestation deiner eigenen Natur als die Dharmakayas, frei von Zeichen. Was die Meditation angeht, so hat seit anfangslosen Lebenszeiten im Daseinskreislauf der ursprüngliche, uranfänglich grundlegende Samantabhadra den Geistesstrom aller fühlenden Wesen durchdrungen, so wie Sesamöl die Sesamsamen durchdringt. Jedoch unter dem Einfluss des dualistischen Greifens und Festhaltens an wahrer Existenz ist der Geist verdunkelt worden, so als ob die Finsternis hereingebrochen wäre und ist getäuscht worden. Aber nun, abgesehen vom Erkennen deiner eigenen Natur, gibt es nichts, auf das zu meditieren wäre und du erlangst Freiheit für dich selbst. Als ein Ergebnis, dass du deinen eigenen Grund erkennst, wird Freiheit im Bereich des angeborenen Raumes erlebt, strukturlos und vom Intellekt nicht verändert und du bist endlos in die große, selbstentstandene, ursprüngliche Ruhe versunken. Das ist als ob sich Raum mit Raum vermischt.

Früher hat dein Verstand zwischen einem Außen und Innen unterschieden und danach gegriffen, als ob sie verschieden wären. Nun hast du Gewissheit erlangt, dass es kein Außen und Innen gibt und du bist zur Natur der großen, alles durchdringenden Offenheit gelangt und das wird Meditation frei vom Intellekt und frei von Aktivität genannt. Im Zustand einer solchen Meditation lass deinen Körper bewegungslos ruhen, ohne ihn zu verändern, wie einen Leichnam am Leichenplatz. Die Stimme nicht zu verändern hat zur Folge, dass alle Rede und Rezitationen aufgegeben werden, als ob deine Stimme eine Laute wäre, deren Saiten durchtrennt worden sind. Den Geist nicht zu verändern hat zur Folge, dass man sich ganz natürlich in den Zustand des ursprünglichen Seins entspannt, ohne es in irgendeiner Weise zu verändern. Dies drei beinhalten auch das Aufgeben der Aktivitäten von Körper, Rede und Geist und das Niederlassen in meditativem Gleichmut, der frei von Aktivität ist. Aus diesem Grund wird dies meditativer Gleichmut genannt.

Wann immer du irgendeine Art der körperlichen oder sprachlichen Aktivität ausführst, wie Essen, Hinlegen, Gehen, Sitzen oder auf einem Marktplatz oder in einer Menschenmenge zu sein, bewahre das beständige Gewahrsein darüber, dass alle Dinge Ausdruck der Ungetrenntheit von Samsara und Nirvana sind, ohne jemals die Macht dieser Sicht zu verlieren. Entferne dich niemals aus dem Zustand des offenkundigen Gewahrseins, frei von Handlung, in dem die inneren Tiefen der Meditation nicht aufgegeben werden. Enthalte dich der Negativität unheilsamer Taten, als ob sie Gift wäre und gestatte niemals deinem Verhalten in Sorglosigkeit zu verfallen. Was dein körperliches Verhalten angeht, so handle ruhig und besonnen, fest und entschlossen, wie eine Tonstatue. Beim Gehen, bewege dich bedächtig, setze jeden Schritt in unbeschwerter Weise. Lass dein Benehmen wie das eines Löwen sein, ohne deinen Kopf umherzuwenden oder rasch nach rechts oder links zu blicken. Beim Aufstehen stehe langsam auf, nicht hastig und beim Essen kaue und schlucke mit Bedacht, nicht wie ein Yak, der Gras hinunterschlingt. Wenn du mit anderen sprichst, dann enthalte dich leichtfertiger und schnippischer Rede und sprich sanft und mit Bedacht. Stimme deine Rede ab, sodass du die Wahrheit zum Ausdruck bringst, freundlich und unbeschwert sprichst, ohne den Geist anderer zu stören. Lass deinen Geist ruhig, beherrscht und weit sein, ohne emotionalen Schwankungen unterworfen. Habe gütige Gedanken und große Selbstlosigkeit und ohne Hinterhältigkeit oder Selbstüberschätzung zu sprechen und sich zu verhalten ist die Art und Weise, wie du deinen Geist dem Dharma zuwendest.

Insbesondere als ein Zeichen deiner eigenen großen Fehler siehst du jeden als fehlerhaft, ohne jemanden als fehlerlos wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung ist wie die jener Leute, die alles als Schlangen ansehen, wenn sie Datura gegessen haben oder jene mit dem Leiden einer Gallenstörung, die eine weiße Muschel gelb sehen. Die Leute, die anders sind als du, werden ausnahmslos als unvollkommen wahrgenommen, während du keine Fehler bei jenen siehst, die dir nahe sind wie deine Brüder, Schwestern, Neffen und Onkel. Sie werden immer als gut betrachtet. Du betrachtest deine eigene Site als göttlich und die andere Seite als dämonisch. Hör auf damit! Betrachte jeden als fehlerlos und erkenne alle Fehler als deine eigenen. Das ist ein entscheidender Aspekt in deinem Verhalten. Wenn du Ansehen und Ruhm besitzt, missachte nicht jene, die schwach, machtlos, verarmt und schüchtern sind. Denn wenn du versagst, freundlich zu allen zu sein, dann besteht die Möglichkeit, dass solch ein Unglück dir vielleicht widerfährt und sie werden sich alle im Zorn gegen dich erheben. Weil die Lebensumstände degenerieren, werden jene in königlicher Stellung, Macht und Reichtum eventuell in niedrige Bereiche und Armut fallen. Indem du diese Angelegenheit untersuchst, hege gegen niemanden Bösartigkeit. Das ist wichtig.


Aus dem Vajra-Herz-Tantra; von Dudjom Lingpa; übersetzt vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2015). Möge es von Nutzen sein!


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