Verfasst von: Enrico Kosmus | 26. Dezember 2020

Nangjang – Erklärung der Einleitung

Das Werk von Dudjom Lingpa „Buddhaschaft ohne Meditation“: Ratschläge zur Enthüllung des eigenen Antlitzes als die Natur der Wirklichkeit, der großen Vollkommenheit“, ist eine der wesentlichen Dzogchen-Schriften, welche in vier Abschnitten folgende Themen aufzeigen:

(1) die Bestimmung des Grundes durch die Sichtweise, (2) die Praxis durch die Kultivierung des Pfades, (3) die Belehrungen über das Verhalten, das die Stütze für diese beiden ist, und (4) die Art und Weise, wie die Frucht verwirklicht wird.

aus der Einleitung: Eine Girlande zur Freude der Glücklichen; von Sera Khandro.

Da wir uns im kommenden Jahr 100 Tage lang diesem Werk widmen werden, gibt es hier eine kurze Einführung durch den Kommentar der Sera Khandro.


3. Die Erklärung der Einleitung

In der Erklärung der Einleitung gibt es vier Teile: (a) Individuen, denen die Bereitschaft für den Pfad fehlt, (b) Individuen, die den Pfad nicht suchen, (c) Individuen, die den Pfad suchen, ihn aber nicht finden, und (d) Individuen, die eine Veranlagung für den Pfad haben.

a. Individuen, denen die Bereitschaft für den Weg fehlt

Heutzutage, wo die fünf Arten des Verfalls auf dem Vormarsch sind, aufgrund der ungehobelten Natur der fühlenden Wesen und ihres mächtigen, negativen Karmas, klammert sich jeder von ihnen an dieses Leben – das nicht mehr als eine Episode in einem Traum ist – und schmiedet langfristige Pläne für ein Leben auf unbestimmte Zeit und zeigt keine Sorge für sinnvolle Beschäftigungen, die sich auf zukünftige Lebenszeiten beziehen. Deshalb erscheinen diejenigen, die nach den Zuständen der Befreiung und Allwissenheit streben, nicht öfter als Sterne am Tage.

Man sagt, dass die fünf Arten des Verfalls die Verschlimmerung von geistigen Gebrechen, Ansichten, Epochen, Lebensspanne und fühlenden Wesen sind. Im vergangenen Zeitalter der Vollkommenheit,[1] waren die geistigen Beschwerden schwach und die fünf Gifte schlummerten. In unserer gegenwärtigen Epoche benehmen sich die Menschen jedoch mit groben psychischen Störungen und die fünf Gifte sind unruhig, also ist dies die Verschlimmerung der psychischen Störungen. Im vergangenen glücklichen Zeitalter[2] hatte ausnahmslos jeder authentische Ansichten, die die Extreme des Ewigen und des Nihilismus vermieden. Heutzutage jedoch fallen die Menschen entweder in die Extreme des Ewigkeitsdenkens oder in die Extreme des Nichtigkeitsglaubens, und niemand vermeidet diese beiden Extreme, also ist dies der Verfall der Ansichten. Früher, im glücklichen Zeitalter, gab es nicht einmal Worte für Aufruhr, Krankheit, Krieg, Hungersnot und so weiter. Aber im heutigen Zeitalter gibt es immer mehr Aufruhr, Krankheit, Krieg, Hungersnot und so weiter, deshalb ist das die Degeneration des Zeitalters. Im vergangenen glücklichen Zeitalter konnte jeder unzählige Jahre oder achtzigtausend Jahre leben. Aber in der jetzigen Ära sind die Menschen im Alter von zwanzig Jahren erschöpft und nähern sich dem Tod um dreißig Jahre, deshalb ist das die Verkümmerung der Lebensspanne. Im früheren glücklichen Zeitalter, als die fühlenden Wesen einander sahen, sahen sie einander mit lächelnden Augen an, grüßten einander mit freundlichen Worten und kümmerten sich uneigennützig um einander. Heutzutage, wenn die fühlenden Wesen einander sehen, betrachten sie sich alle als Feinde, verhöhnen einander mit harten Worten und bereiten sich darauf vor, sich gegenseitig zu schlagen und zu töten, deshalb ist dies der Niedergang der fühlenden Wesen.

In dieser Epoche, in der die fünf Arten der Degeneration auf dem Vormarsch sind, klammert sich jeder an dieses menschliche Leben, das nicht mehr als eine Episode in einem Traum ist, und hängt daran, macht langfristige Pläne für ein Leben auf unbestimmte Zeit, unterwirft seine Feinde, beschützt seine Freunde, errichtet Gebäude, pflügt Felder und Bauernhöfe und vermehrt seinen Reichtum, um seinen Besitz und sein Vergnügen zu vergrößern. In der Zwischenzeit kümmert sich niemand um sinnvolle Beschäftigungen, die sich auf zukünftige Lebenszeiten beziehen. Aus diesen Gründen heißt es, dass Menschen, die nach den Zuständen der Befreiung und Allwissenheit streben, seltener gesehen werden als Sterne am Tage. Dies sind Individuen, denen die Neigung für den Pfad fehlt.

b. Personen, die den Pfad nicht suchen

Obwohl manche Menschen den Tod vor Augen haben und enthusiastisch Dharma praktizieren, lassen sie ihr Leben verstreichen, indem sie sich lediglich mit verbalen und physischen spirituellen Praktiken beschäftigen und nach höheren Wiedergeburten als Götter und Menschen streben.

Selbst wenn Menschen den Tod im Sinn haben und enthusiastisch Dharma praktizieren, lassen sie ihr Leben verstreichen, indem sie sich lediglich mit spirituellen Praktiken wie körperlichen Niederwerfungen und Umkreisungen, verbalen Rezitationen von Liturgien und der geistigen Kultivierung guter Geisteshaltungen beschäftigen, und streben nach nichts weiter als nach höheren Wiedergeburten als Götter und Menschen, ohne dass irgendjemand von ihnen den allwissenden Zustand der Buddhaschaft anstrebt. Dies sind Individuen, die den Pfad nicht suchen.

c. Personen, die den Pfad suchen, ihn aber nicht finden

Einige, obwohl sie nicht das geringste Verständnis für die Sichtweise der Leerheit haben, erkennen ihren eigenen Geist als leer an, identifizieren lediglich die Natur der diskursiven Gedanken oder des inaktiven Bewusstseins und bleiben dann passiv in diesem Zustand. Infolgedessen werden sie einfach in Wiedergeburten als Götter in den Begierdebereichen und Formbereichen getrieben, ohne dem Pfad zur Allwissenheit auch nur um Haaresbreite näher zu kommen.

Einige, denen das geringste Verständnis für die Sichtweise der Leerheit fehlt, stellen, wenn sie die äußere physische Welt, ihre fühlenden Bewohner und ihre eigenen inneren Körper als ethisch neutral wahrnehmen, nur ihren eigenen Geist als leer fest. Dann nehmen sie entweder Gedanken als den Pfad an oder werden von irgendeinem törichten Lehrer lediglich in die Natur des inaktiven Bewusstseins eingeführt und ruhen dann in diesem Zustand, während sie in Bezug auf die neun Arten von Aktivität des Körpers, der Sprache und des Geistes völlig passiv bleiben.[3] Wenn sie im Nichtstun verweilen, treibt sie die Erfahrung der Glückseligkeit in den Bereich der Begierde, die Erfahrung der Lichtheit treibt sie in den Bereich der Form oder die Erfahrung der Nicht-Begrifflichkeit treibt sie in den Bereich des Formlosen. Wenn dies geschieht und sie es für den Höhepunkt der Meditation halten und darauf vertrauen, ist das Ergebnis, dass sie lediglich in Wiedergeburten als Götter der Begierde- und Formbereiche befördert werden, ohne dem Pfad zur Allwissenheit auch nur eine Haaresbreite näher zu kommen. Das sind Individuen, die den Pfad suchen, ihn aber nicht finden.

d. Individuen, die eine Veranlagung für den Pfad haben

Wenn es also einige wenige Individuen gibt, die im Laufe zahlloser Äonen gewaltige Ansammlungen [von Verdienst und Wissen] angehäuft, sie mit feinen Gebeten verbunden und eine karmische Verbindung mit dem letztendlichen Dharma hergestellt haben, habe ich ihnen dies als Erbe geschenkt. Diejenigen, die keine karmische Verbindung mit mir haben und denen das besondere Glück fehlt, den Dharma der Großen Vollkommenheit zu meistern, werden sich entweder auf Projektion oder Leugnung bezüglich dieser Lehre einlassen und dadurch ihren eigenen Geist in die Wildnis verbannen. Ihr, die ihr nicht so seid und deren Glück dem meinen gleicht, beachtet diesen Rat – und erkennt durch Untersuchung, Analyse und Gewöhnung Samsara und Nirvana als große Leerheit und realisiert ihre Natur.

Aus diesem Grund habe ich, Kunzang Düdjom Dorje, als Unterhalt und Erbe für jene wenigen Individuen, die im Laufe unzähliger Zeitalter gewaltige Ansammlungen [von Verdiensten und Wissen] angehäuft, sie mit feinen Gebeten verbunden und eine karmische Verbindung mit dem letztendlichen Dharma hergestellt haben, dies offenbart. Diejenigen, die keine karmische Verbindung mit mir haben und denen das Karma und das Glück fehlt, den Dharma der Großen Vollkommenheit zu meistern, mögen Fehler projizieren, wo es keine Fehler in dieser Lehre gibt, und mögen gute Qualitäten leugnen, die es gibt. Solche Menschen verbannen ihren eigenen Geist in die Wildnis, weit weg von diesem hellen Dharma der Großen Vollkommenheit. Ihr Menschen, die ihr nicht so seid und deren Glück dem meinen gleicht, indem ihr zuerst diesen Ratschlag beachtet, ihn dann untersucht und analysiert und euch schließlich mit ihm vertraut macht, erkennt die Natur der einen großen Leerheit aller Phänomene von Samsara und Nirvana, und erkennt sie als Erscheinungsformen der einen großen Leerheit und als die Sphäre der einen großen Leerheit. Erkenne ihre Natur! So wird es gesagt. Damit ist die tugendhafte Einführung abgeschlossen.


[1] Dies war das erste Zeitalter, in dem die Menschen in der Lage waren, die vier Wurzelgebote in Vollständigkeit zu halten.

[2] Dies ist das Zeitalter, in dem eintausend Buddhas erscheinen.

[3] Tib. bya ba dgu sprugs. Zu den neun Arten von Aktivität gehören die (1) äußeren Aktivitäten des Körpers, wie Gehen, Sitzen und Umhergehen, die (2) inneren Aktivitäten der Niederwerfungen und Umkreisungen und die (3) geheimen Aktivitäten des rituellen Tanzes, des Durchführens von Mudras und so weiter; die (4) äußeren Aktivitäten der Rede, wie alle Arten von wahnhaftem Geschwätz, die (5) inneren Aktivitäten, wie das Rezitieren von Liturgien, und die (6) geheimen Aktivitäten, wie das Zählen von Versöhnungsmantras der persönlichen Gottheit; und die (7) äußeren Aktivitäten des Geistes, wie Gedanken, die durch die fünf Gifte und die drei Gifte hervorgerufen werden, (8) innere Aktivitäten der Geistesschulung und der Kultivierung positiver Gedanken, und (9) die geheime Aktivität des Verweilens in weltlichen Zuständen der Versenkung. Siehe GD 297.


Aus „Eine Girlande zur Freude der Glücklichen. Eine überaus klare Erläuterung der Worte und ihrer Bedeutung: Eine Erklärung der mündlichen Überlieferung des glorreichen Gurus, als Anmerkungen zur Natur der Wirklichkeit, der großen Vollkommenheit, „Buddhaschaft ohne Meditation‘.“ von Sera Khandro. Übersetzt vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2020). Möge es von Nutzen sein!


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