
Der Einsatz von Substanzen auf dem Pfad zur Befreiung findet im Mahayana und Vajrayana große Verwendung. Allerdings handelt es sich dabei nicht um irgendwelche psychoaktiven Substanzen, sondern es sind Dharma-Substanzen, die der erleuchteten Sphäre als Schätze entnommen wurden, gegebenenfalls durch Mantra, Mudra und Samadhi gesegnet wurden und nun die Praktizierenden auf dem Pfad mittels Segenskraft unterstützen. Manche dieser Substanzen sind sogar selbstsegnend, d.h. sie sind Manifestationen der Erleuchtung beispielsweise in Dakini-Schrift oder bestimmten Symbolen, die keiner weiteren Bearbeitung durch Praktizierenden benötigen. Der dieser Anwendung zugrundeliegende Gedanke ist das Wissen um das bedingte Entstehen (tib., rten ‚brel snying po). Das bedeutet, dass sich mittels Mantra, Mudra und Samadhi aus der Leerheit gemäß dem bedingten Entstehen die erleuchtete Absicht (tib., dgongs pa) manifestiert.
Als Tendrel ist aber nicht nur das bedingte Entstehen, wie von Nagarjuna im Madhyamaka erklärt, zu verstehen, sondern es ist auch das „glückliche Zusammentreffen“ bzw. das Zusammenkommen günstiger Umstände (tib., bkra shis rten ‚brel). Es ist dann eine glückliche Fügung von Dingen. Chögyam Trungpa schreibt dazu in „Ein flüchtiger Blick auf den Abhidharma“:
Diese Vorstellung von Glück wird gewöhnlich entweder nur als eine Redewendung angesehen oder mit Aberglauben in Verbindung gebracht. Sie beinhaltet ein Gefühl der Macht. Das Wort für „glücksverheißend“, wie es mit „Zusammentreffen“ oder dem Begriff Tendrel verbunden ist, heißt im Tibetischen Trashi, im Sanskrit Mangalam. Das Glück ist ein Aspekt des Zufalls, des Zusammentreffens von Bedingungen. Die Bewegung von Unwissenheit und Gefühlen und Wahrnehmungen und so weiter ist in gewisser Weise verheißungsvoll und angemessen, weil alle diese zwölf Kausalzusammenhänge ununterbrochen und unfehlbar miteinander verbunden sind. Mit anderen Worten, es gibt keinen Irrtum über das, was geschieht. Alles ist in genau diesem Moment richtig und angemessen. Das ist es, was Mangalam ist, oder Trashi – ein Segen.
Chögyam Trungpa; Glimpse of Abhidharma
In diesem Sinne, dem Bewerkstelligen von günstigen Umständen, sind die weiteren Ausführungen zu verstehen.
Befreiung ohne Meditation
Im Vajrayana kennt man neben der Praxis der Meditation fünf weitere Methoden, die zur Befreiung führen, ohne dass man meditiert. Dies geschieht durch Sehen, Hören, Schmecken, Berühren und Erinnern. Betrachten wir in Folge, was darunter zu verstehen ist.
Thongdröl – Befreiung durch Sehen (tib., mthong grol) ereignet sich, indem man die Wahrheit sieht, den Guru, den Buddha, eine Statue, eine Mantra-Inschrift usw.

Thödröl – Befreiung durch Hören (tib., thos grol) ist hierzulande schon länger bekannt und geschieht beispielsweise durch das Hören einer bestimmten Lehre. Ein bestimmter Textabschnitt im Karling Zhitro – gemeinhin als „Tibetisches Totenbuch“ bekannt – ist das Bardo Thödrol. Hier wird der verstorbenen Person der entsprechende Meditationstext vorgelesen, in dem zu Lebzeiten meditierte Mandala detailreich beschrieben wird. Außerdem wird der verstorbenen Person der Ablauf des Sterbens und des Übergangs (tib., bar do) auf diese Weise in Erinnerung gerufen und sie daran erinnert, dass die auftauchenden Erscheinungen keine Eigennatur haben, sondern die Manifestation der eigenen Geistesnatur sind. So wird die verstorbene Person durch den Zwischenzustand geleitet und man versucht, das nunmehrige Bardo-Wesen entweder zur Befreiung oder zumindest zu einer günstigen Geburt zu führen.
Eine andere Methode der Befreiung durch Hören geschieht durch die Verwendung von Mantras und Dharanis, die man hört.
Nyongdröl – Befreiung durch Schmecken (tib., myong grol) passiert beispielsweise durch das Schmecken von Amrita (aka „Lama-Dütsi“) oder anderen Essenzen. Es gibt verschiedene Arten von Nektar, die als Kügelchen oder Pulver für die Einnahme zur Verfügung stehen. Amrita (tib., bdud rtsi) bedeutet Todlosigkeit bzw. Unsterblichkeit. In einem Tantra wird dazu gesagt: „Wenn man auf Samsara, das wie Mara (bdud) ist, das Elixier (rtsi) der Wahrheit des Dharma anwendet, wird es Nektar (bdud rtsi) genannt.“ Gerade Amrita (Nektar; Dütsi) ist im Vajrayana von wesentlicher Bedeutung. Der 13. Dalai Lama schrieb dazu:
„Es wird gesagt, dass alle Siddhis, einschließlich der Vollendung des Vajra-Körpers der Unsterblichkeit, das Ergebnis der Qualitäten von Amrita sind.“
Außerdem kommt Amrita auch eine medizinische Bedeutung zu, wo im Werk „Acht Bände über Nektar“ erklärt wird:
„Er heilt die 424 Krankheiten und vernichtet die vier Maras, er ist die höchste Essenz, der König der Medizin.“
Der Nektar wird im Rahmen eines Mendrub (tib., sman sgrub), einer rituellen Praxis, während der eine große Menge an Amrita fermentiert und geweiht wird, hergestellt.
Tagdröl – Befreiung durch Berühren/Tragen (tib., btags grol) geschieht durch das Berühren oder Tragen von bestimmten Substanzen, Diagrammen (Mandalas), Amuletten oder Mantra-Rollen. Ein Tagdröl kann Teil einer ausführlichen Ermächtigung sein oder es kann unabhängig davon gegeben werden.

Ein Tagdröl wird häufig als Praxisstütze, als Segensobjekt selbst trägt oder als Dharma-Gabe auf den Körper eines Verstorbenen legt, damit die Segenskraft dessen Geistesstrom durchdringt. Auf diese Weise unterstützt man die verstorbene Person dabei, die Leiden des Zwischenzustandes nach dem Tod aufzuheben.
Exkurs: Amulette – Praxisstütze und Schutz
Ein Amulett dient entweder dem Schutz und/oder Abwehr von Ungemach oder fungiert als Praxisstütze.
Praxisstütze

Häufig tragen tantrisch Praktizierende nach erfolgreicher Praxisklausur auf eine bestimmte Meditationsgottheit ein Yantra (Symbole und Mantras) bzw. das entsprechende Tantra oder einen wesentlichen Praxistext als Amulett oder in einer kleinen Schmuckschatulle (tib., ga’u) bei sich. Dies dient als ständige Verbindung zur absolvierten Praxis.
Das Lebenskraftamulett des Rigdzin Düpa Dechen Namröl symbolisiert den gesamten Mandala-Palast, in dem Guru Rinpoche, seine acht Emanationen, die acht Vidyadharas, die mit den acht Haupt-Sadhanas der Nyingma-Tradition verbunden sind, ferner die 25 Herzensschüler, Schützer, Buddha Amitabha usw., einfach alle versammelt sind.
Trägt man das Amulett der Grünen Tara am Hals, dann wird wie im Wurzeltext zum Amulett vermerkt: „Trägt man es um den Hals, wird man die höchsten und gewöhnlichen Verwirklichungen erlangen. Indem die Qualitäten der (meditativen) Erfahrungen und Verwirklichungen zunehmen, führt es dazu, dass man die Befreiung auf der Stufe Alles Licht erlangt.“

Beim Lebenskraftamulett der Thröma Nagmo wird gesagt: „Trägt man es beständig, ohne sich davon zu trennen, werden alle Unterbrechnungshindernisse beseitigt und man es wird zur Quelle der höchsten und gewöhnlichen Verwirklichungen.“
Bei der Lebenskraftstütze – dem Amulett – der Yeshe Tsogyal ist die große Gefährtin, die Dakini Yeshe Tsogyal selbst ist im Zentrum des Amuletts und ist umgeben von den vier Dakinis in Gestalt der Keimsilben. Mit den im Amulett befindlichen Mantras wird die Kraft der Yeshe Tsogyal in ihrer friedvollen und zornvollen Manifestation eingeladen, man bittet dabei um dieüberragenden Verwirklichungen und langes Leben, um Weisheit und höchstes Wissen und um die Siddhis der meditativen Versenkung. Darüber hinaus werden die Mamos und Dakinis angerufen – also alle weltlichen weiblichen Kräfte – und bittet sie, die vier erleuchteten Aktivitäten auszuführen: 1) alle dämonischen Kräfte, Hinderer, Krankheitsursachen usw. sollen befriedet werden; 2) Lebensspanne, Verdienst, Pracht, Charisma, Qualitäten, Vitalität, Lebenskraft, Windpferd sollen anwachsen; 3) alle männlichen und weiblichen Wesen – die Götter und Geister, die Menschen und was sonst noch herumkreucht und fleucht – der drei Bereiche und drei Welten sollen unter die Herrschaft von einem gebracht werden; und 4) die fünf Gifte und drei Gifte sollen zusammen mit den Feinden und hinderlichen Kräften allesamt in den Dharmadhatu befreit werden. Außerdem sind die Symbole des Weltenherrschers, sowie die glückverheißenden Symbole drinnen. Im Wurzeltext heißt es, dass man dieses Amulett von Zeit zu Zeit wieder neu aufladen soll, indem man das Mantra rezitiert. Ach ja, ich werde davon einen kurzen Text auf rangdrol’s Blog stellen, damit sich die Leute das herunterladen können. Umwickelt mit fünffarbigen Fäden und in scharlachrote Seide eingeschlagen, soll man es im Geheimen tragen, sodass es nicht durch andere Hände wandert. Wenn man das macht, werden die Mamos und Dakinis einen wie das eigene Kind beschützen.
Schutzamulette

Wie beim Lebenskraftamulett des Tsi’u Marpo verkündet, ist es, dass „er einem wie ein Diener folgt“, wenn man sein Yantra (Amulett), das um einen Phurba gewickelt ist, um den Hals trägt. Beim Lebenskraftamulett der Shaza Hormo wird gesagt: „Errichte es als Stütze der der Praxis, durchdringe es nachdrücklich mit der Visualisation! Trägt man es, ungetrennt von meditativer Wärme, um den Hals, dann wird die Mamo einen beschützen wie ihr geliebtes Kind.“ Auch beim Schutzamulett des Za Düd Rahula wird gesagt, trägt man es um den Hals bzw. am Körper, dann wird er einem folgen wie der eigene Schatten.

Andere Schutzamulette können eine Dakini-Schrift beinhalten, die nur vom jeweiligen Schatzfinder (Tertön; tib., gter ston) entschlüsselt werden kann (siehe Srung Dril des Sangye Lingpa). Ein Schutzamulett kann aber auch einfach ein bestimmtes Mantra enthalten, das z.B. mit Gold auf schwarzem oder dunkelblauem Papier geschrieben wurde (siehe Rüstungs-Mantra; Dorje Gotrab).
Natürlich ist es erforderlich, diese Amulette immer wieder zu aktivieren, d.h. mit Mantra, Mudra und Samadhi zu segnen. Wenn man jedoch keine Möglichkeit dazu hat, dann ist auch hingebungsvolles Vertrauen wie im Fall der Geschichte mit der alten Frau und dem Hundezahn hilfreich, wie von Patrul Rinpoche erzählt.
Drändröl – Befreiung durch Erinnerung (tib., dran grol) ist eine Form der Befreiung, bei der beispielsweise Phowa (tib., ‚pho ba) – die Übertragung des Bewusstseins – angewendet wird. Durch Erinnerung an die früher ausgeführte Praxis geschieht hier zum Zeitpunkt des Todes die Befreiung, in diesem Fall die Übertragung des Bewusstseins in ein reines Land (z.B. Mahasukhavati).
Möge es von Nutzen sein!
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