
Von John Myrdhin Reynolds
Im Allgemeinen kann der buddhistische Begriff „Dakini“ für eine Göttin gehalten werden. In der tibetischen Sprache wird dieser Sanskrit-Begriff mit Khandroma (mkha‘-‚gro-ma) übersetzt, was „sie, die den Himmel überquert“ oder „sie, die sich im Raum bewegt“ bedeutet. Dakinis sind aktive Manifestationen von Energie. Daher werden sie gewöhnlich als tanzend dargestellt, was auch darauf hinweist, dass sie sowohl im Samsara als auch im Nirvana aktiv an der Welt oder an der spirituellen Perspektive teilnehmen. In der tantrisch-buddhistischen Tradition Tibets stellen Dakinis im Wesentlichen Manifestationen von Energie in weiblicher Form dar, die Bewegung von Energie im Raum. In diesem Zusammenhang weist der Himmel oder Raum auf die Shunyata hin, die Substanzlosigkeit aller Phänomene, die gleichzeitig die reine Potentialität für alle möglichen Manifestationen ist. Und die Bewegungen ihres Tanzes bezeichnen die Bewegungen der Gedanken und der Energie, die spontan aus der Natur des Geistes hervorgehen. Da die Dakinis mit der Energie in all ihren Funktionen verbunden sind, werden sie viel mit der Offenbarung der Anuttara-Tantras oder Höheren Tantras in Verbindung gebracht, die den Pfad der Transformation darstellen. Was hier transformiert wird, ist Energie. Diese Methode erinnert stark an die Alchemie, die Umwandlung von unedlem Metall in reines Edelgold. In diesem Fall wird die Energie der negativen Emotionen oder Kleshas, Gifte genannt, in die Lichtenergie des erleuchteten Gewahrseins oder der Gnosis (jnana) umgewandelt.
Diese Energien können von transzendenter und spiritueller Natur sein; in diesem Fall werden sie Jnana-Dakinis (ye-shes kyi mkha‘-‚gro-ma) oder Weisheitsgöttinnen genannt. Hier bedeutet „[zeitlose] Weisheit“ oder Gnosis (jnana, ye-shes) spirituelles Wissen. Weisheits-Dakinis sind weibliche Manifestationen der Buddha-Erleuchtung und als solche transzendieren sie die konditionierte Existenz von Samsara. Oder sie können weltlicher Natur sein, wobei man in diesem Fall von Karma-Dakinis (las kyi mkha‘-‚gro-ma) oder Aktionsgöttinnen spricht. Als solche gehören sie immer noch zu Samsara und sind keine erleuchteten Wesen. Diese Dakinis leben und bewegen sich in der Energiedimension der Erde. Einige dieser weltlichen Dakinis, die einst lokale heidnische Göttinnen und Naturgeister waren, wurden in der Vergangenheit unterworfen und bekehrt und dienen heute als Hüterinnen der buddhistischen Lehren. Es gibt also grundsätzlich zwei Arten von Dakinis. Die entsprechende Manifestation von Energie in einer männlichen Form wird als Daka (mkha‘-‚gro) bezeichnet. Der Begriff Khandro, oder genauer gesagt Khandroma, wird vor allem in Osttibet auch auf eine weibliche Lama oder einen spirituellen Lehrer und sogar auf die Frau oder Tochter eines Lamas als Ehrentitel ähnlich wie „Dame“ angewandt. Die Bezeichnung Dakini findet sich auch in der hinduistischen Tradition, aber hier wird sie nur auf sehr unbedeutende Göttinnen angewandt, die eher dem ähneln, was wir in unserer westlichen Tradition Hexen nennen würden. Sie erscheinen als wilde weibliche Geister im Gefolge, die die große Göttin Durga begleiten.
Im frühen Mittelalter kamen hinduistische Theologen und Philosophen dazu, von den Göttinnen als Shaktis zu sprechen, d.h. als personifizierte Energie ihrer männlichen göttlichen Gemahlinnen. In der buddhistischen Tradition hat der Begriff jedoch eine viel breitere und wichtigere Verwendung. Die Dakini als Manifestation des erleuchteten Gewahrseins repräsentiert Weisheit (prajna) und nicht nur Energie (shakti). Weisheit (prajna) ist jene höhere intellektuelle Fähigkeit des Geistes, die in die Natur der Realität eindringt und das Wahre vom Falschen unterscheidet usw. Wir finden hier ein ähnliches Phänomen wie die Personifizierung der Weisheit als weibliche Figur in der westlichen Tradition, als Hochmah oder Sophia. Außerdem ist diese Weisheit keine junge Jungfrau, die süß, sentimental und passiv ist. Vielmehr ist eine Dakini eine aktive Manifestation der Erleuchtung. Sie ist eine Manifestation von Energie, obwohl buddhistische Texte den Begriff Shakti nicht verwenden.
Darüber hinaus ist die Dakini eine Manifestation der Energie des erleuchteten Bewusstseins im Bewusstseinsstrom des einzelnen männlichen Praktizierenden, der dieses Bewusstsein für den spirituellen Pfad erweckt und so die Rolle der archetypischen Figur spielt, die der Schweizer Psychologe C.G. Jung als Anima bezeichnet hat. Die Anima repräsentiert die unbewusste weibliche Seite der männlichen Persönlichkeit. In einem weiblichen Bewusstseinsstrom ist der Animus oder Daka die Figur, die die entsprechende Rolle spielt. Diese männlichen Gegenstücke werden Dakas genannt und gewöhnlich als tantrische Yogis mit langen verfilzten Haaren dargestellt, die nackt oder in Tierhäute gekleidet sind, Ornamente aus menschlichen Knochen tragen und auf Friedhöfen und Krematorien leben. An bestimmten Pilgerorten und in Krematorien versammeln sich die Dakas und Dakinis zu bestimmten Mondphasen, um das tantrische Fest, die so genannte Ganachakra-Puja, zu feiern. Diese nächtlichen Riten unter dem Mond erinnern an die Bacchanalien oder den Hexensabbat im Westen. Die Dakas und Dakinis kommen zum Fest, fliegen durch den Himmel und versammeln sich um den riesigen Kessel, der aus einem gigantischen Schädel besteht, wo sie singen, tanzen und trinken. Da es aber hauptsächlich Männer waren, die im Laufe der tibetischen Geschichte Bücher und Berichte über ihre Meditationserfahrungen geschrieben haben, lag die Betonung auf Dakinis und nicht auf Dakas.
Nach dem System der buddhistischen Tantras nimmt der Praktizierende nicht nur Zuflucht zu den Drei Juwelen (dkon-mchog gsum) des Buddha, dem Dharma und der Sangha, sondern auch zu den Drei Wurzeln (rtsa-ba gsum) des Guru, der Gottheit und der Dakini. In Bezug auf Meditationspraktiken, die sich auf diese drei Wurzeln beziehen, sagt man, dass der Guru oder spirituelle Meister dem Praktizierenden den Segen oder die spirituelle Energie der Inspiration und Erleuchtung gewährt. Die Devatas oder Meditationsgottheiten gewähren Siddhis oder psychische und spirituelle Kräfte, und die Dakinis gewähren Karma-Siddhis oder magische Kräfte, die einen eher weltlichen Zweck haben.
Von Lama Vajranatha (John Myrdhin Reynolds); übersetzt vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2020). Möge es von Nutzen sein!
ja, John lebt noch und erfreut sich bester Gesundheit.
By: Enrico Kosmus on 22. Juli 2020
at 20:59
Vielen Dank auch fuer diesen wertvollen Beitrag. Lebt John Myrdhin Reynolds noch? Ich hatte vor vielen, vielen Jahren das Glueck ihn in Koeln kennenzulernen und ein paar Tage mit ihm zu praktizieren!
By: Ingrid Liedtke on 22. Juli 2020
at 20:20