Verfasst von: Enrico Kosmus | 27. Juni 2012

Vier Überlegungen – den Geist dem Dharma zuwenden

Die Praxis der grundlegenden Übungen ist, wie der Name schon sagt, von fundamentaler Bedeutung auf dem Pfad der Befreiung. Ohne dass die Grundlagen erkannt und im Leben Eingang gefunden haben, ist eine nachhaltige Entwicklung am Pfad schwer möglich. Die grundlegenden Übungen bestehen in der allgemeinen Basis der vier Überlegungen und den besonderen Grundlagen, bestehend aus Zuflucht, Bodhicitta, Reinigung, Verdienstansammlung und dem Herabflehen des Segens durch das Guru-Yoga. Dieser Beitrag hier beschäftigt sich mit den vier Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden. In weiteren Beiträgen werde ich dann die weiteren Stufen des Pfades eingehender beschreiben.

Kostbare Geburt

Die allgemeinen Übungen versetzen Praktizierende in die Lage, über die Umstände ihres Lebens nachzudenken. Die Reflexion der eigenen Lebenssituation und das Erkennen der darin liegenden Vorteile, bringt eine Begegnung mit der Frage mit sich, was will man mit dem eigenen Leben machen. Welche Bedeutung misst man dem eigenen Dasein bei? Erkennt man die Vorteile und Möglichkeiten oder verharrt man in einer Sicht der Ausweglosigkeit, des Fatalismus? Sucht man weiterhin nach Ablenkung und Zerstreuung? Dies bringt auch Fragen des Selbstwerts und des Selbstvertrauens mit sich. Ein sicheres Zeichen, dass diese Überlegung den Geist durchdrungen hat, ist, dass man sich so voll und ganz auf die Praxis einlassen kann. Man hat sich die Kostbarkeit der individuellen Freiheiten und Vorzüge zu Herzen genommen.

Vergänglichkeit

Erkennt man, dass alle Dinge vergänglich sind, beginnt die Überlegung über das Wesen, die wahre Natur aller Dinge. Da der Wert von Dingen nicht durch sie selbst bestimmt wird, sondern dadurch, was ihnen beigemessen wird, sind sie ihrem Wesen nach wie ein Regenbogen am Himmel. Schön anzusehen, aber dennoch vergänglich und höchst abhängig vom Standpunkt der betrachtenden Person. Wenn man also Gold und Edelsteine, wie auch Schmutz und Unrat als gleichwertig sehen kann, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass man die illusorische Natur der Erscheinungen realisiert hat. Durch ihr Vorhandensein, wie auch ihr Fehlen, wird der Geist nicht aus seinem Gleichmut gestört.

Zusammenhang von Ursache und Wirkung

Obwohl alle Phänomene von illusorischer Natur sind, tritt ja immer wieder etwas in Erscheinung. Die Überlegung, auf welche Weise die Dinge in Erscheinung treten führt dahin, dass man die Aufmerksamkeit auf die eigenen Handlungen und ihre Resultate lenkt. Wenn man erkennt, dass eine wechselseitige Bedingung, eine stimmige Verbindung zwischen einer Absicht, einer ursächlichen Handlung und einem so genannten Ergebnis besteht, beginnt man eine größere Sorgfalt auf die eigenen Gedanken und Taten zu richten. Alle wünschen sich Glück und Freude und versuchen Ungemach und Qual zu vermeiden. Daher ist es ratsam und ein Resultat von Einsicht, dass man destruktive Geisteshaltungen und Handlungen aufgibt und ausnahmslos konstruktive und heilsame Haltungen einnimmt und Taten ausführt. Auf diese Weise hat man auch einen raschen Pfad gefunden, der wie eine Rolltreppe einen selbst zur Befreiung hinauf führt. Durch das Aufgeben von unheilsamen Handlungen wird das Tor zu einer Wiedergeburt in den niederen Bereichen Samsaras verschlossen.

Unzulänglichkeit von Äußerlichkeiten

Schließlich gelangt man zur Reflexion über Glück und Leid in dieser Welt der wiederkehrenden Erfahrungen. Bei näherer Betrachtung erkennt man, dass in der Äußerlichkeit nirgendwo letztendliches Glück zu finden ist. Zunächst sucht man nach befriedigenden Momenten, strebt nach materiellen Gütern, nach Beziehungen usw. Man strampelt sich mit einer endlosen Sucherei ab. Hat man dann endlich etwas erlangt, beginnt schon die Angst, es wieder zu verlieren. Und nicht nur das, man quält sich auch noch mit der Angst selbst ab, wohl wissend, dass alles vergänglich und letztendlich nicht haltbar ist. Bleibt etwas über sehr, sehr lange Zeit gleich und ohne Veränderung, passt’s auch wieder nicht, da die kreative Abwechslung fehlt. Also passt es einem nie und man hat ein beständiges Gefühl von Unzufriedenheit. Aber hat man einmal erkannt, dass dieser wiederkehrende und unbefriedigende Kreislauf von einer falschen Anschauung und einem Greifen nach Äußerlichkeiten bestimmt ist, und erkennt dies als das wahre Hindernis, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass man Ozean des Leidens überqueren will und sich bereits auf den Weg gemacht hat.

Da diese vier Überlegungen von so fundamentaler Bedeutung auf dem Pfad sind, sollte man sich an sie täglich, ja sogar mehrmals täglich erinnern. Spirituelle Praxis, die nicht von diesen vier Gedanken durchdrungen ist, entwickelt sich sehr rasch zu einem Ego-Projekt und zu einer neuen Suche nach Unterhaltung, Ablenkung und endet schließlich wieder am Ausgangspunkt – nämlich des Herumstrampelns im Hamsterrad des Lebens.


Antworten

  1. Lieber Enrico,
    danke für diesen Beitrag. Für mich ist dieser Text den du hier verfasst hast einer deiner klarsten, einfachsten und gleichzeitig jener der genaue nachvollziehbare Anweisungen gibt, durch deren Anwendung man im Alltag immer mehr fähig wird seine Untugenden zu erkennen und aus Freiwilligkeit zu klären und zu läutern. Ich empfehle, seit über 40 Jahren, Menschen die mich um meine Meinung oder Hilfe bitten, sich genau diese 4 Wahrheitsübungen aufzuschreiben und diese stets bei sich sofort greifbar/nachlesbar mitzuführen. Das habe ich selbst für mich getestet und habe heute immer noch so einen kleinen Zettel bei mir der mich stets daran erinnern soll, wer ich bin, was ich bin und wohin ich gehen will. Vielleicht mag ja jemand ebenso auf diese Art seinen Alltag auf das wesentliche fokusieren. Wie du schreibst, lieber Enrico, sind dies die Grundlagen auf dem Weg der Befreiung, ja klar und ich möchte ich aus meiner Erfahrung noch einen Schritt weitergehen. Es sind Grundagen und noch viel mehr. Durch das Anwenden dieser 4 einfachen Wahrheitsübungen eröffnet sich einem eine Weisheit die nichts mehr mit Wissen zu tun hat, sondern man beginnt zu fliessen, von einer Sekunde seines Daseins zur anderen, mit klarem Bewusstsein erfährt man sich plötzlich als der obere 3te Punkt eines gleichschenkeligen Dreiecks der mit den Basispunkten fliessend verbunden ist, verbunden und dennoch ohne herabzusteigen. Eine tiefe Ruhe, Frieden und Gleichmut stellen sich ein ganz egal wie gerade die Lebenssituation ist, irgendwoher fliesst eine Weisheit durch das ganze Sein, welche einem stets diese 4 Weisheitsübungen wie einen Urzustand in die eigene Wahrnehmung schüttet. Dadurch lernt man sehr viel, die Selbstverantwortung wächst von Tag zu Tag und was ich einfach genial finde, es entwickelt sich ein wunderbarer Humor in einem Selbst. Ein Humor bei dem man sich selbst als lernendes, handelndes Wesen wahrnimmt und herzlich lachen und schmunzeln kann über seine scheinbaren Fehler die man macht. Scheinbar schreibe ich hier weil es gar keine Fehler gibt, es ist nur Unbewusstheit und Trägheit die ich in solchen Momenten zugelassen habe und diese wird mir durch die Erinnerung an die hier von dir zitierten Überlegungen, augenblicklich bewusst. Diese Erinnerung stellt sich einfach ein – sie fliesst mir zu und daher nenne ich sie innere Erinnerungsweisheit – ich weiss nicht ob das so stimmt doch irgenwie möchte ich diese Kraft benennen, denn ich selbst tue in diesen Momenten nichts aktives dazu um diese Erinnerung einzuschalten oder geschehen zu lassen. Für diese wie ich es nenne Erinnerungsweisheit, bin ich mit jeder Faser meines Herzens dankbar ohne diese würde ich mich doch manchmal sehr verloren fühlen. Diese Kraft hat sich bei mir jedoch erst eingestellt als ich begann tagtäglich aus Freude zu beten, in allem das göttliche zu sehen auch wenn es zu Beginn sehr schwer war 🙂 und eben diese 4 hier beschriebenen Grundlagen in meinem Leben anzuwenden. Es lohnt sich das zu TUN, es macht frei, gleichmütig, friedlich und humorvoll. Ausserdem habe ich festgestellt das man weniger Falten bekommt und selbst wenn welche schon da waren verfeinern sich diese und werden fast unsichtbar- kein Scherz!!
    Warum dass so ist weiss ich nicht. Meine Überlegung war, dass dieses Phänomen eventuell eintritt, weil man die Äußerlichkeiten nicht mehr für wichtig nimmt. Die Veränderung was das körperliche angeht bemerkt man auch nicht selbst was wirklich erstaunlich ist, erst wenn man durch andere darauf aufmerksam gemacht wird sieht man es. Vielleicht stellt sich irgend eine Art von Zeitlosigkeit ein, während der Versenkung des Alltags in die aktive Tätigkeit der 4 Wahrheitsübungen?
    Liebe Grüße
    Miljenka


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