Verfasst von: Enrico Kosmus | 28. Februar 2010

Drikung Kagyu – Die Schule der geflüsterten Überlieferung der Drikungpas

Der Drikung-Kagyü-Orden des tibetischen Buddhismus stellt eine einzigartige Tradition des Studiums und der Praxis dar, die durch eine ununterbrochene Linie erleuchteter Lehrer übermittelt worden ist. Als die kostbaren Lehren des Buddha Shakyarnuni aus dem heiligen Land Indien nach Tibet gebracht wurden, erlangten unzählige Heilige und Yogis durch das vollkommene Verstehen und das Meditieren über die Erhabene Lehre die Verwirklichung.

Überlieferungstraditionen des Dharma

Von diesen unzähligen Heiligen ausgehend entwickelten sich allmählich acht große Linien: Nyingma, Kadam, Lamdre, Kagyü, Shenpa Dhege, Jordrug und Choeyui. Aus diesen entstand die Dagpo-Kagyü-Linie, angefangen mit dem großen indischen Heiligen Tilopa (988-1069), der eine direkte Übertragung der Belehrungen von Vajradhara (tib. Dorje Chang) erhielt. Sein Hauptschüler war Pandita Naropa (1016-1100), der Leiter der glanzvollen Nalanda-Universität. Dessen Schüler wiederum war Marpa, der Übersetzer (1012-1099), der ausgedehnte Reisen unternahm, u.a. dreimal nach Indien und viermal nach Nepal um die Lehren nach Tibet zu bringen. Alles in allem erhielt Marpa Unterweisungen von 108 tantrischen Meistern, unter anderen von Naropa und Maitripa. Pandita Naropa erwählte ihn zum Vajraregenten Tibets und prophezeite, dass die Mahamudra-Belehrungen zu großer Blüte gelangen würden.

Marpa – Gampopa – Phagmodrupa

Marpa’s ausgezeichnetster Schüler war Milarepa (1052-1135), der als der größte Yogi Tibets bekannt geworden ist. Jetsün Milarepa erreichte in einem Leben die Erleuchtung. Seine Lebensgeschichte und die „Hunderttausend Gesänge“ sind Höhepunkte der tibetischen Literatur und des spirituellen Denkens und sind eine wesentliche Inspiration für Praktizierende. Milarepa’s Hauptschüler war Gampopa (1079-1153), dessen Kommen von Buddha Shakyamuni selbst prophezeit worden war.
Gampopa vereinigt die drei großen Linien von Nagarjuna, Asanga und Tilopa. Einer seiner Hauptschüler war Phagdru Dorje Gyalpo. Von ihm stammen acht Kagyü Linien ab, einschließlich die Linie der Drikung Kagyü, deren Oberhaupt (oder Drikung Kyobpa) Jigten Sumgön Ratnashri (1143-1217) war, der Hauptschüler und Nachfolger Phagmodrupas.

Kyobpa Jigten Sumgön – Der Dharma-Herr aus dem Kyura-Klan

Kyobpa Jigten Sumgön war der Vajraregent des Buddha in der nördlichen Hemisphäre. Von ihm hat der Buddha in der Yeshe Yongsugyepa Sutra gesagt: „ln der Nördlichen Hemisphäre, inmitten von Schneegebirgen, wird ein Ratnashri entstehen. Dieses außergewöhnliche Wesen, das weltweiten Ruhm erlangt, wird meine Lehre bedeutend fördern.“
In der Ghongdu Sutra heißt es weiter: „Der Ort der Urquelle des Dharma namens Drikung wird einen Ratnashri hervorbringen, welcher im Jahr des Schweins geboren sein wird. Er wird von einer millionenfachen Schar von Schülern umgeben sein und wird nach seinem Tod in die Ngongai Buddha-Länder eingehen. Dort wird er ‚Vollkommen Weißer Buddha‘ genannt werden.“
In zwanzig Sutras und Tantras werden ähnliche Prophezeiungen über Kyobpa Jigten Sumgön gemacht, während der Singalese Arhata Bhikshu und die Grüne Tara aussagten, daß er die Reinkarnation von Nagarjuna ist. So kam es, daß Jigten Sumgön Ratnashri im 12. jh. in Osttibet bei Naljor Dorje und Rakshesatsun geboren wurde. Im Alter von 25 Jahren begegnete er Phagmodrupa und erhielt alle Belehrungen der Sutras und Tantras. Als sein Lehrer starb, ereignete sich eine wundersame übertragung eines goldenen Licht-Vajras vom Herzen von Phagmodrupa zum Herzen von Ratnashrl. Nach sieben Jahren der Meditation in der Echung-Höhle in Zentraltibet erlangte Ratnashri die Erleuchtung im Alter von 35 Jahren. Danach empfing er die Bhikshu-Ordination und sein Ruhm breitete sich in ganz Tibet aus.
Im Alter von 37 Jahren gründete er seinen Hauptsitz in Drikung, den er Jangchub Ling (Zentrum der Erleuchtung) nannte. Hier betonte er die Wichtigkeit der ethischen Disziplin und der Entwicklung von Bodhicitta als die Grundlagen der Lehren des Buddha. Da sein Geist mit dem aller Buddhas vereint war, konnte er nun alle Bodhisattvas und fühlenden Wesen entsprechend ihrer Aufnahmefähigkeit und ihrem Verständnis führen. Er versammelte 180.000 Schüler um sich und prophezeite, daß sie 3.500 Klöster an verschiedenen Stellen, u.a. in Tibet, Indien und China, gründen würden. Die Prophezeiung erfüllte sich und es wurden sechs Texte verfaßt, die diese wichtigen Dharma-Aktivitäten beschreiben. Während der Kulturrevolution wurden diese Texte zerstört.
Als der erste Karmapa, Dusum Khyenpa, Drikung besuchte, sah er Kyobpa Jigten Sumgön als den Buddha selbst. Er entwickelte großes Vertrauen zu ihm und erhielt seine Belehrungen. Ratnashri wurde von den Königen Indiens, Chinas und Tibets anerkannt, während ein König der Nagas ihm anbot, die wachsende Anzahl der Schüler in Drikung zu versorgen. So erreichte Drikung die Höhen spiritueller und akademischer Vortrefflichkeit.Kyobpa Jigten Sumgön schickte viele Schüler zu den heiligen Stätten, wie beispielsweise zum Berg Kailash, den Lapchi Schneebergen und nach Tsari, so daß die Drikung Kagyü Linie diese heiligen Orte bewahrte. Jigten Sumgön ging im fünfundsiebzigsten Lebensjahr in das Mahaparinirvana ein.

Der 5-fache Pfad zu Befreiung und die „Sechs Yogas des Naropa“

Der 5-fache Pfad zu Mahamudra ist die Hauptpraxis der Kagyü-Linien. Die Einführung in den geheimen Mantrapfad (Vajrayana) erfolgt traditionell durch Ermächtigung (Wangkur), Textübertragung (Lung) und Praxiserklärungen (Tri). Diese Art führt den Praktizierenden erstmalig in die transformativen Praktiken des Vajrayana ein.
Der Pfad der Herzensschulung der tibetischen Tradition des Buddha-Dharma besteht aus dem Sutra- & dem Tantra-Pfad. Das Sutrayana ist der äußerliche Pfad, während das Tantrayana – auch „Geheimes Fahrzeug“ genannt – der innere Pfad ist. Beide Fahrzeuge (Yanas) stützen einander und sollen von den Praktizierenden auch ausgeübt werden. In der Drikung Kagyü-Tradition finden sich sowohl die Lehren der Kadampa-Überlieferung nach Atisha, sowie die mündliche Überlieferung von Vajradhara über Tilopa, Naropa, Marpa und Milarepa. Der 5-fache Pfad zu Mahamudra stellt eine Kombination von Sutra- & Tantra-Instruktionen dar. Kyobpa Jigten Sumgön hat den Pfad zu Mahamudra als einen fünfgliedrigen Pfad überliefert und ihm den Namen „5-facher Pfad zu Mahamudra“ gegeben. Dieser Pfad mit den Stufen von Bodhicitta, Yidam, 4-Kaya-Guru-Yoga, Mahamudra und Widmung geht auf Gampopa zurück und dessen Hauptschüler Phagmodrupa nannte dies dann den „fünfgliedrigen Pfad“. In dieser Praxis war dann Kyobpa Jigten Sumgön sein Hauptschüler.
Die „Sechs Yogas des Naropa“ (naro chödruk) umfassen die Praxis der inneren Hitze (tummo), Illusionskörper (gyülam), Traumyoga (milam), Klar-Licht (ösel), Zwischenzustand (bardo) sowie Bewusstseinsübertragung (phowa). Im Unterschied zum 5-fachen Pfad zu Mahamudra sind die „Sechs Yogas des Naropa“ eine reine Praxis des Mantrayana und werden manchmal auch „Freude & Leerheit“ genannt.

Die Tradition heute

Mehr als acht Jahrhunderte sind nun seit der Gründung der Drikung Kagyü Linie vergangen. Vom großen Abt Kelichen Gurawa Tsultrim Dorje bis zur Gegenwart sind es 37 aufeinanderfolgende Lehrer gewesen, die die goldene Kette der Drikung Kagyü Linie bilden.
Infolge der Vernichtung des tibetischen Volkes und der tibetischen Kultur kam die kostbare Drikung Kagyü Linie beinahe zum Aussterben. Dennoch haben viele große Lehrer, einschließlich Ihre Heiligkeiten Drikung Chetsang Rinpoche und Drikung Chungtsang Rinpoche überlebt, die das Studium und die Praxis der Lehren am Leben erhalten haben. Drikung Thil ist der Hauptsitz der Linie in Tibet geblieben, während viele andere Drikung-Klöster im östlichen Teil des Landes gedeihen. Außerhalb von Tibet befinden sich wichtige Drikung-Klöster in Indien und Nepal. Weiters findet die Linie der Drikung Kagyü in Deutschland, Schweiz, Spanien, Ungarn, Schweden, Frankreich, Estland, Litauen, Russland und der Ukraine große Verbreitung. Der große Friedens-Stupa in Zalazsanto (Ungarn) wird von Mönchen der Drikung Kagyüs betreut. In Deutschland befinden sich bedeutende Zentren der Drikung Kagyüs in Aachen, Medelon, München, Hamburg und Heuchelheim. Einen besonderen Zweig der Drikung Kagyüs vertritt S.E. Ontul Rinpoche mit dem Yang-Zab-System – der Nyingma-Tradition innerhalb der Kagyüs. Zentren dazu sind in Hamburg, Staufenberg und Wien. In Österreich sind stehen derzeit vier Zentren (Wien, Wilhering, Geistthal, Innsbruck)  in der Tradition der Drikung Kagyü. Weitere Infos hier.


Antworten

  1. Sehr geehrte Damen und Herren,

    können Sie mir die Bedeutung des Begriffs ‚Tobung‘ erklären? In einem Bergexpeditionsbuch, dass ich übersetze wird es als ein Zeichen der Achtung gegenüber den Gottheiten der Berge beschrieben.
    Oder können Sie mir ein kompetente Adresse zur Lösung des Problems nennen ?

    Mit freundlichen Grüßen

    Markus Mössel


Kategorien

%d Bloggern gefällt das: